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Werkauswahl Band 2: Und über uns – die Brücke der Erwartung; Erzählungen, 192 Seiten, kartoniert, Andiamo Verlag Mannheim 2015, ISBN 978-3-936625-70-7 
 
 
»Eine faszinierende Reise durch das Unterholz der Gegenwart (...) Geschichten aus Glas, die sich dem Leser ins Fleisch schneiden.« Glanz & Elend, Magazin für Literatur und Zeitkritik

»Wer über Klaus Servenes Sätze wandert, merkt nicht, wie begierig er bald den verschiedensten Gerüchen nacheilt. Etwas kocht. Mal in uns, mal in unserer Nähe, denn die Welt bei ihm ist ein Gericht, an dem wir, die Unersättlichen, uns die Zunge verbrennen.« Dimitré Dinev, Wien

»Klaus Servene schreibt großherzig und sarkastisch zugleich. Ein Mensch mit einer süßen Zunge, mit einem warmen Mund, wie man in Afghanistan sagen würde.« Massum Faryar, Berlin

»Lebendige Geschichten, souverän und wirklichkeitsgesättigt.« Mannheimer Morgen

»Ein Schriftsteller, der tatsächlich seine Geschichten wie Kastanien aus dem Schmutz fischt und sie solange geduldig säubert, bis sie zu glänzen beginnen. Empfehlenswert.« Michael Lehmann-Pape, Leverkusen
 
Das gedruckte Buch ist verlagsseitig vergriffen.                  

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(c) Leseprobe, Auszüge aus: Klaus Servene, Werkauswahl Band 2: Und über uns – die Brücke der Erwartung, Erzählungen, Mannheim 2015: 
 

In einer Sylvesternacht tauchte sie auf. In den letzten Jahren hatte es manchmal so ausgesehen, als würde sie wiederkommen, mal beschleunigte sich ihr Herzschlag, mal änderten sich auch Rhythmus und Intensität ihrer Atmung, doch es war immer nur falscher Alarm, sie fiel wieder ins Koma. Wo immer dieser Ort ist, das Koma, es ist ein unzugänglicher, ferner Ort, über den wir im Grunde nichts wissen. Nichts, auch wenn wir alles zusammentragen, was unsere Patienten berichten, wenn alles gut geht, sie sich erholen und in der Lage und außerdem willens sind, zu berichten. Vielleicht war es das Feuerwerk, der Lärm und das Leuchten, vielleicht auch ein unbekannter Wille, ich weiß es nicht, in dieser Nacht jedenfalls kam die Frau zu sich, die Frau, die ja fast noch ein Mädchen war. Niemand wusste, woher sie kam, und bereits nach wenigen Stunden flüsterte sie Silben, Wörter, zuckte mit den Wimpern, kniff ihre Augen zu und öffnete sie wieder; und ich rannte in das Stationszimmer, griff mir das Diktiergerät, wollte unbedingt aufzeichnen. Das Bild ihrer Augen hatte sich mir eingebrannt. Ich hatte nicht mitbekommen, wie genau es geschah; dass sie ihre Augen plötzlich öffnen konnte oder wollte, war jedenfalls die Überraschung der Nacht. Die meisten unserer Patienten liegen mit offenen Augen, doch Selma war anders. Sie hatte ihre Augen immer fest verschlossen, zwei mit Vaseline verschmierte Falten, aber jetzt boten sie plötzlich ein anderes Bild: Zwei wässrige, fragende Spiegel aus graublauer Farbe. Spiegel, die nicht nach einem Gegenüber zu fragen schienen, die nicht Besorgnis ausdrückten, von mir, jemand anderem oder von der Welt Anerkennung oder Verständnis zu bekommen. Es schienen mir Spiegel zu sein, die ein inneres Geheimnis nur zögerlich nach außen durchscheinen lassen wollten. Ich schaltete das Diktiergerät ein und hielt es ihr dicht vor die Lippen.

(...)

Der Esel von Arbanassi

»Die Geheimnisse des Langlebens«, war auf dem bunten Plakat zu lesen, das einen bärtigen alten Mann zeigte, der fröhlich eine Geige schwang. Wir saßen auf einer Bank vor der Giebelwand, die das Plakat und das Dach des Hauses trug. Obwohl wir mitten auf dem Land waren, gab es mehrere Holzboote, zur Zierde des Anwesens und zur Beflügelung der Fantasie. Auf dem Blech eines alten Wolga spielten zwei Katzen. In großen Volieren scharrten und gackerten Hühner, Fasane erblickten wir, Ziegen und Schweine, als könnten sie davonfliegen, in große Drahtverhaue mit Schindeldächern eingesperrt. Unweit davon fütterte Mirela einen Esel mit Äpfeln, die sie unterwegs vom Boden aufgelesen hatte. Es lagen viele Äpfel im Gras, auch Quitten, an diesem Spätsommertag in Arbanassi. Zu sechst waren wir aus Deutschland nach Bulgarien geflogen, um diesen Esel in der großen Voliere zu sehen. Er sei erst drei Jahre alt, hieß es, aber er könne Gold machen wie ein gestandener Fabel-Esel. Wir hatten es schon satt, den Esel zur Fabrikation von Goldstücken durch aufmunternde Worte zu bewegen, doch Mirela wollte die Hoffnung noch nicht ganz aufgeben. Sie fütterte und streichelte ihn, dem Esel schien es zu gefallen. Doch Gold schiss er nicht.

Alle sechs waren wir durch tiefe Täler gegangen, alle sechs waren wir des Öfteren weit und hoch geflogen; doch so hoch und weit hatten sich unsere Seelen selten über die Wirklichkeit erhoben wie bei dieser Hochzeit. Es war, als ob unsere eigenen Kinder heirateten, dabei waren wir gar nicht blutsverwandt, sondern Freunde, Wahlverwandte eben. Kennengelernt hatten wir uns vor einiger Zeit in einem Frühling, an einem ersten Frühlingstag in einem weitläufigen Park eines weitläufigen Barockschlosses in Süddeutschland. Es war reiner Zufall, dass wir dort nicht aneinander vorbeigelaufen sind. Sicher lag es auch daran, dass die meisten Besucher wegen der Hauptattraktion des Tages gekommen waren. Die vielen japanischen Kirschbäume blühten, sie formten ein zartes Dach ineinanderfließender rosa Wolken über den Köpfen der Besucher. Bienenschwärme summten, ein leichter Duft hatte sich über die Welt gelegt, und Kinder spielten in den gelben Beeten mit gelb blühenden Narzissen. Da fiel mir ein Grüppchen auf, das schwatzend im Gras saß: Eine ältere Frau mit vielen Falten im Gesicht, eine etwas jüngere, sportliche, mit einer Kapuzenjacke, die wohl den Rollstuhlfahrer begleitete, der ihre Hand hielt; ein attraktiver junger Mann, der aus einer mir unbekannten Stadt in Bulgarien kam und in der Nähe studierte, wie ich noch erfahren sollte, und schließlich ein Herr in meinem Alter, der etwas Vogelartiges an sich hatte. Wir kamen ins Gespräch – und sind Freunde geworden.

Die Hochzeit fand nach orthodoxem Ritus in der Kathedrale der alten Hauptstadt Bulgariens statt: In Veliko Tarnovo, gute zweihundert Kilometer nordöstlich von Sofia entfernt. Die Stadt türmte sich über der Flussschleife des Yantra in mehreren Etagen die Hänge hinauf, deren untere morgens vom Nebel verschluckt wurden und tagsüber von einem deutlichen Charme unaufhörlichen Verfalls angefüllt schienen. Die gesamte Hochzeitsgesellschaft war aber in einer Hotelanlage in Arbanassi untergebracht, einem Dorf unweit der alten Hauptstadt, wo ausgiebig und lange gefeiert werden konnte und auch gefeiert wurde – in einer für solch große Hochzeitsgesellschaften unvorstellbaren Harmonie. Es gab gleich mehrere Personen, die vor Glück nicht mehr sprechen oder vor Glück mit dem Sprechen gar nicht aufhören konnten, je nach Naturell. Alle schienen sie schwerelos über den Rasen der Anlage oder durch das blaue Wasser des Pools zu gleiten, wenn nicht sogar zu fliegen.

Die »Schwarzen Zungen« sprachen mit Musik. »Karandila« befeuerten mit ihren Instrumenten die Herzen der Tanzenden, bis diese kurz unterhalb der Decke des Restaurants flogen, wo sie mit den weißen Luftballons anstießen, während ihre Besitzer an den Tischen die Gläser erhoben. Selbst der sonst zurückhaltende Kellner Miro flog. Er brachte Pitka, ein schmackhaftes Brot wie eine flach gehaltene Dampfnudel, das man mit Tschubriza bestreute. Er brachte Fleisch, an Spießen, zu überdimensionierten Schnecken gerollt, gebraten, gegrillt und gekocht. Er brachte Salate, fein mit Schafskäse bestreut. Er brachte Bourgas Selection 63 Perlova, Ayran und Eis für dick getanzte Knöchel. Er brachte Hochzeitstorte und flog, bescheiden wie er war, in seine Ecke in der dampfenden Küche zurück, wo er in kurzen Pausen Zigaretten rauchte, während der Schweiß für kurze Zeit erkaltete.

Der Klowärter der Restaurantanlage war ein Ebenbild des Alten auf dem Plakat. Er war nur jünger, sein Bart rabenschwarz, und lustig funkelten blaue Augen aus dem Gesicht, das in der Sonne gereift schien. Statt bulgarischer Tracht trug er internationale Arbeiterkleidung. Statt einer Geige in der Hand trug er zerknülltes Papier, das er dem Esel zu fressen gab. »Alles fressen!«, sagte er auf italienisch und hieb mit der Faust auf Gold-Esels Nase, »auch brennende Zigaretten!« Der Esel schien erschrocken und Mirela war entsetzt. Der Klowärter war lange Zeit in Kalabrien gewesen, hatte dort geholfen, Oliven zu ernten, bevor er zurück nach Bulgarien musste; mit einem gebrochenen Arm.

Das Hochzeitspaar hatte nach der Trauung in der Kirche Tauben fliegen lassen. Ihr Flügelschlag drang an meine Ohren. Das Geräusch der flatternden Flügel vermischte sich mit der Musik von »Karandila« und den Geräuschen, wie sie gestreichelte junge Esel machen.

Dann plötzlich sah ich auch den Esel fliegen. Er zertrat die Holzbohlen, die ihn eingesperrt hatten, und, einen Apfel im Mund, erhob sich der Esel von Arbanassi fast behäbig und zog, schneller werdend, deutliche Schleifen fliegend, in einen nachtklaren Himmel, an dem der halbe Mond zwischen den hinteren Rädern des großen Wagens blinkte. Der Himmel sah aus, als hätte der Maler Miró das nächtliche Firmament bepinselt. Und der Esel flog mit angezogenen Beinen und angelegten Ohren wie ein modernes Flugzeug einem langen Leben entgegen. Vorbei war das Vegetieren im Stall, aus war es mit dem Goldmachen. Aus ihren Verschlägen jubelten ihm die Hühner und der Hahn zu, die Ziegen und die Schweine. Die Pfauen schlugen ihre Räder vor Begeisterung und dazu kläfften die Hunde von Arbanassi im Chor.

Eine grüne Wiese mit Blumen und ein blauer, fast wolkenloser Himmel umrahmten den fröhlichen Alten mit der Geige auf dem Plakat. Es wirkte statisch – wie das Fliegen hoch über den Wolken. Aber in beidem steckte die Musik der Freiheit.

Fliegen müsste man können!, dachte ich, und da weckte mich auch schon Mirelas Lachen. Wir saßen nebeneinander auf dem Rückflug von Sofia nach Deutschland. Wir sechs. Soeben war mit dem Landeanflug begonnen worden.


              


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