Donnerstag

Massum Faryar

Unverstandenes Land

Von Ralf Günther Sächsische Zeitung, Sonnabend / Sonntag - 9./10. Mai 2015

Wie kostbare Goldfäden glitzern die Geschichten im Roman des ehemaligen Dresdner Stadtschreibers Massum Faryar. Er erzählt vom Alltag in Afghanistan.

Die Kunst des Teppichknüpfens ist Jahrtausende alt. In Afghanistan ist sie nicht nur eine Möglichkeit, ein wichtiges Erzeugnis des Landes – Schafswolle – zu veredeln. Neueren Datums ist die Kunst, bildliche Darstellungen der Landesgeschichte in die Teppiche zu weben. Die ersten dieser sogenannten „War Carpets“ – Kriegsteppiche – tauchen während der sowjetischen Besatzungszeit auf: Neben Moscheen, Palmen und traditioneller Ornamentik sind dort Hubschrauber zu sehen, Kalaschnikows, Panzer. Die Teppiche verarbeiten die Kriegserfahrungen derer, die sie geknüpft haben.

Massum Faryars „Buskaschi oder Der Teppich meiner Mutter“ ist auch ein Erzählteppich. Kein Zufall, dass er ihn schon im Titel trägt. Geschichten sind Gewebe. Oft bemerken wir erst auf den zweiten Blick, wie kunstvoll die Motive, wie zahlreich die Verknüpfungen sind. Die Hauptfäden des Romans bilden die Lebensgeschichten eines Vaters und seines Sohnes – Scharif und Schaer. Nebenfäden erzählen vom tragischen Schicksal des Landes. Die Erzählung kulminiert in der mitreißenden Schilderung eines Buskaschi-Reiterkampfes.

Am Anfang steht allerdings ein denkwürdiger Hamam-Besuch. Schaer – der junge Dichter, das „Alter Ego“ des Autors – darf als halbwüchsiger Knabe die Mutter ins Frauenbad begleiten. Dort erfährt er eine Art sexueller Initiation. Es ist sein Abschied von der Kindheit, fortan muss er mit dem Vater ins Männerbad. Die Dialoge zwischen Vater und Sohn – sie gestehen sich etwa, dass sie in dieselbe Frau verliebt waren – gehören zum Schönsten und Wertvollsten, was dieses Buch vor uns ausbreitet.

Der Vater, ein Aufsteiger aus eigener Kraft, nimmt aktiv an Politik und Geschick des Landes teil. Schaer ist derweil auf Brautschau, sein Bruder und dessen Freunde reihen sich ein in die radikalen Bewegungen der Zeit, auf dem unübersichtlichen Kampfplatz zwischen Maoismus, Kommunismus und Anti-Imperialismus. Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen bevölkern die Handlung, die Organisation des Landes in – oftmals verfeindeten – Sippen wird spürbar. Dazwischen glitzern Liebesgeschichten wie Goldfäden. Massum Faryar gelingt es, das individuelle Liebesleid kunstvoll in das Geflecht politischer Intrigen und Ranküne zu knüpfen. Achteinhalb Jahre hat er auf das Weben seines Teppichs verwendet, sechs Monate davon als Stipendiat des Kulturamts der Stadt Dresden und der Stiftung für Kunst und Kultur der Ostsächsischen Sparkasse. Auch ein Vorschuss seines Verlages Kiepenheuer & Witsch half ihm über die Zeit. Einige Mitglieder seiner Familie begegneten ihm mit Spott und Bedauern: Wirtschaftlich kalkulierende Menschen schrieben nicht so lange an einem Buch. Der Autor antwortete ihnen, er habe ja nicht nur geschrieben, sondern auch gelebt.

Afghanistan ist ein unverstandenes Land. Der Buskaschi-Kampf, dieses Sinnbild der Zerrissenheit, ist rücksichtslos, archaisch, tollkühn. Die Lieder der Hirten, die Namen der Instrumente, jedes dieser kleinen Geheimnisse zeigt uns, wie weit wir davon entfernt sind zu verstehen. Massum Faryar lebt seit zweiunddreißig Jahren in Deutschland. An seiner Hand betreten wir das fremde Land, ohne das Haus unserer Sprache und Denkweise zu verlassen.

Sicherlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn das Buch seine Leser früher gefunden hätte. Vielleicht hätte es Angehörigen die Suche nach dem Warum erleichtert, als noch Bundeswehrsoldaten starben in Afghanistan. Doch Kunst schielt nicht auf Exitstrategien. Faryars Arbeitsweise beruht auf meditativer Versenkung, auf dem allmählichen Hinabsteigen in die Klüfte der eigenen Seele. So erschafft man Sätze voller Weisheit und Schönheit: „Blicke sind Energien, die in den anderen als Gefühle weiterleben.“

Vielleicht ist es eine Zeitverschwendung abzuwarten, bis solche Sätze von selbst erscheinen. Heutzutage, da man alles irgendwie erzwingen kann. Massum Faryar hat sich die Zeit auch mit persönlichen Opfern erkauft: an Gesundheit, Lebensqualität, Sozialität. Das Buch ist das Werk seines Lebens im wahren Sinn des Wortes.

Manfred Loimeier im Mannheimer Morgen: Die Lektüre allemal lohnend ist das historische Wissen, das Faryar einflicht und damit über die politische Entwicklung des Landes aufklärt. Ob die einst versuchte Annäherung an den Westen, der Einfluss der Sowjetunion und die unselige Unterstützung der Mudschahedin durch die USA – mit diesen eingebetteten Informationen nutzt Faryar Literatur als Mittel der Aufklärung und schafft es dabei doch, dass das belletristische Schreiben Vorrang behält vor sachlicher Faktenaufbereitung. Dem entspricht ein stellenweise fast märchenhaft-poetischer Tonfall und eine lebhafte Ausgestaltung der Figuren. Insofern ist auch der Titel des Romans als Metapher zu verstehen – der Buskaschi genannte Wettstreit ist hier nicht nur als ein sportliches Reiterspiel zu verstehen, sondern das Eifern um eine tote Ziege ist auch ein Sinnbild für das verbissene Ringen um die Macht in Afghanistan – die letztlich keinen Sieger kennt. So ist der Roman „Buskaschi oder Der Teppich meiner Mutter“ als Porträt des Landes Afghanistans sowohl zeitlos, als angesichts der derzeitigen Entwicklungen im Mittleren Osten zugleich auch aktuell.

Glanz und Elend 30. Juni 2015 - Jürgen Nielsen Sikora: (...) Von der ersten Szene an, in der der kleine Schaer zusammen mit seiner Mutter das Frauenhamam als Sinnbild des Paradieses besucht, ist der Leser von Massum Faryars erstem Roman gefesselt. Trotz der vielen historischen Details, den Gleichnissen und an orientalische Märchen erinnernden Geschichten besticht Faryars Buch durch seine klare und schnörkellose Sprache. Die 650 zauberhaften Seiten halten nicht nur eine wundervolle Liebesgeschichte bereit; sie sind vor allem die Liebeserklärung an ein geschundenes Land und seine Geschichte. Auf jeder Seite spürt man die Wehmut über dieses verlorengegangene Paradies, das Afghanistan einst gewesen ist.


1959 in Herat geboren, legte Massum Faryar in Afghanistan sein Abitur ab und kam 1982 nach Deutschland, wo er in München Germanistik studierte. Er lebt in Berlin, wo er als Übersetzer und Autor tätig ist. Im Jahr 2005 promovierte Faryar an der Freien Universität Berlin mit der Arbeit Fenster zur Zeitgeschichte: eine monographische Studie zu Ota Filip und seinem Werk.

Beim Internationalen Literaturwettbewerb "grenzen.überschreiten" erhielt Massum Faryar für seinen Beitrag Der Rucksack 2008 eine Sonderauszeichnung des Vereins KulturQuer-QuerKultur. Als „beklemmend aktuell, erzählerisch versiert und für einen breiten Leserkreis spannend und zugleich informativ“ würdigte die Jury seine Erzählung.

Der Autor erhielt mehrere Stipendien für seine literarische Arbeit, z.B. das Alfred-Döblin-Stipendium, das Stipendium Dresdner Stadtschreiber, ein Stipendium des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

"Meine Liebe zur Literatur und Poesie habe ich bereits als Kind entdeckt. Bereits in meiner Schulzeit habe ich sowohl Gedichte als auch Kurzgeschichten im literarischen Magazin Herat und in der Herater Tageszeitung veröffentlicht. In den 80er und 90er Jahren habe ich auf Persisch geschrieben und in den afghanischen Exilblättern veröffentlicht. Es waren vor allem Gedichte, politische Essays, literaturkritische Texte, Übersetzungen deutscher Kurzgeschichten und Drehbücher. Es handelt sich also bei mir um einen Wechsel der Sprache von Dari ins Deutsche, und nicht um literarischen Neubeginn, wie manchmal geschrieben wurde. Eins ist allerdings wahr: Buzkashi ist mein erster Roman, den ich schreibe." Massum Faryar (März 2010)

Bibliographie (Auswahl):

- Baqe Afsanah (Der Garten der Märchen), ins Persische übersetzte ausgewählte Märchen der Brüder Grimm in zwei Bänden - im Auftrag des Goethe-Instituts; Kabul, Saba, 2004
- Fenster zur Zeitgeschichte: eine monographische Studie zu Ota Filip und seinem Werk, 2005
- Der Rucksack, in: grenzen.überschreiten - ein europa-lesebuch, Mannheim 2008
- Die Burg, Erzählung, in: MAGNUM, Dresden 2010
- Taskera, Erzählung, in: MAGNUM, Dresden 2010

Ralf Günther über Massum Faryar

(Aus: Europabrevier 1, Erstausgabe, Andiamo 2011)

Erzähler besitzen das Talent, auch komplexe Zusammenhänge so zu schildern, dass jeder sie verstehen kann. Die Erzählkunst bietet dazu ein umfangreiches Instrumentarium: Parabeln, Metaphern, Symbolik, Dramaturgie, Figuren und vieles andere mehr. Vor der Erfindung der rationalen Wissenschaften boten Erzählungen die einzigen stringenten, jedermann einleuchtenden Welterklärungen. Verpackt in eine Geschichte lassen sich die Geburt des Kosmos, die Entstehung der Menschheit, das Sesshaftwerden von Nomaden, Aufstieg und Niedergang von Weltreichen, Bruderkriege und Stammesfehden, Inzest und Kannibalismus - beinahe alles anschaulich und verständlich machen. Drastischste Handlungen wie z. B. ein Vatermord werden nachvollziehbar, sobald man sie in eine stringente Erzählung mit einem glaubwürdigen Protagonisten verpackt. Die Bibel, das Mahabharata, der Koran, die antiken Göttersagen, die Ilias, das Nibelungenlied (die Liste ließe sich fortführen - einmal rund um den Globus), dies alles sind nicht nur Geschichten, Legenden oder Mythen. Sie formen die Welt (oder nur einen Ausschnitt) mit den Mitteln des Erzählens zu einem sinnhaften Ganzen. In der klassischen Erzählung gibt es nichts, das keinen Sinn im Gesamtkontext ergibt. Alles gehört dazu. Welch tröstliche Wirkung auf Menschen, die ins Chaos des Universums geworfen sind!

Sein Talent gepaart mit diesem Instrumentarium verleiht dem Erzähler Macht. Er schenkt uns die Illusion, die Welt zu verstehen, oder sie zumindest mental im Griff zu haben. (Die literarische Moderne verschmäht gelegentlich diese Mittel. Doch die Stärke der klassischen Erzählkunst kennt sie gleichwohl und kann nicht immer der Versuchung widerstehen, sie zu nutzen.)

Wie gern hätten wir das Gefühl - oder wenigstens die Illusion -, die Gemengelage in Afghanistan halbwegs unter Kontrolle zu haben. Wie gern würden wir begreifen, was Menschen dazu bringt, einer radikalen Sekte mehr Vertrauen zu schenken als der Kraft der westlichen Aufklärung und der Ordnung eines parlamentarischen Systems. Wie gern würden wir durchschauen, warum man ein Unrechtssystem wie die Korruption, das der übergroßen Mehrheit nachteilig ist, nicht rechtsstaatlich durchbrechen kann. Menschen aus unserer Mitte - Verwandte oder Freunde - sterben in einem Krieg für eine Gesellschaft, die wir nicht verstehen.

Massum Faryar (...) arbeitet an einer großen Erzählung, die uns sein Land näherbringen, vielleicht sogar erklären kann. Buzkashi heißt sie, und dieser Titel ist schon erzählerischer Kunstgriff. Buzkashi ist der Name des afghanischen Nationalsports. Junge Männer kämpfen zu Pferde um einen Ziegenkadaver.

Wer den Balg zuletzt erobert und in einen Kreidekreis wirft (der von den anderen freilich erbittert verteidigt wird) ist Sieger. Ein besseres Sinnbild für das Dilemma Afghanistans ist kaum denkbar: Es geht allein um die Demonstration von Verwegenheit und Stärke, um irrationales Geprotze. Das, worum gekämpft wird, ist wertlos. Der Ziegenkadaver ist ein sinnfälliges Symbol dafür, dass den Rivalen um die Macht der Zustand ihres Landes vollkommen gleichgültig ist. Das Land ist schon tot. Eine endlose Folge mehr oder weniger offener Machtkämpfe hat es getötet. Es geht nur noch darum, wer den Kadaver zuletzt in den Händen hält. Der Vater des Erzählers wird Buzkashi-Sieger - eine Schilderung des Kampfes ist eine der Schlüsselszenen des Romans.

Afghanistan liegt im Nahen Osten, in der Weltgegend, die man früher als »den Orient« bezeichnete. In dieser Bezeichnung klingt die ganze Faszination dieses Erdteils mit. Klingt auch das mit, was jedem von uns diese fremde Nachbarschaft ganz nahe gebracht hat: Märchen. Wer ist nicht mit Ali Baba aufgewachsen, der die vierzig Räuber so unglaublich brutal überwindet? Oder mit der Wunderlampe des Aladin, mit Dschinns und Derwischen? Nicht zuletzt unsere große religiöse Erzählung - die Bibel - ist eine durch und durch orientalische. Wer das Alte Testament gelesen hat, weiß, was Stammesfehden sind.

Diese Erzähltradition durchzieht Massum Faryars Manuskript wie die goldenen Fäden das Gewebe eines fliegenden Teppichs. Seine Figuren sind märchenhaft und realistisch zugleich. Von der Prüderie des modernen Orients ist er himmelweit entfernt. Pubertierende Jünglinge im Frauen-Hamam (Jungen dürfen grundsätzlich ihre Mütter ins Frauenbad begleiten) werden zum Problem. Massum Faryar erzählt das nicht nur freimütig aus, sondern macht eine berührende, humorvolle Szene daraus.

Die rationale Abgeklärtheit des Westens macht sich Massum Faryar zunutze. Er kämpft mit der deutschen Sprache, nennt sie »die Löwin, die ich gezähmt habe«, um dann auf den Schwingen der Erzählung doch wieder in die Heimat zu entfliehen. Immer noch wundert er sich über die strenge Hierarchie, die in der deutschen Sprache herrscht: Das Subjekt regiert den Satz. »Das ist bei uns anders«, erklärt Faryar. »Bei uns kann man alle Satzglieder austauschen und es bleibt trotzdem dieselbe Aussage.« Wie kann man Hoffnung haben, dieses Land mit Gewalt in westliche Systeme zu pressen, wenn nicht einmal die Sprache Herrschaft zulässt?

(...) Buzkashi ist ein Lebenswerk, daran besteht kein Zweifel. Und das Ende ist in Sicht. Wenn es vollendet ist, kann es ein weiterer Zauberschlüssel sein, uns die Pforte zu einer Welt aufschließen, die wir bisher nur von außen kennen. (...) Das Interesse ist bereits jetzt groß, man darf mit ziemlicher Sicherheit erwarten, dass Buzkashi die Öffentlichkeit erreicht. Wenn nicht, wäre eine große Chance vertan.

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