Beiträge von Klaus Servene für das Köster-Magazin "Die kostenlose Zeitung aus Barmbek" (Auswahl).

Seit 1998 erscheint in Hamburg-Barmbek das Köster-Magazin. Vom reinen Informationsblatt für die Bewohnerschaft der gemeinnützigen Köster-Stiftung (gegründet 1885) hat es sich längst auch als Nachbarschafts- und darüber hinaus auch als Stadtteilmagazin etabliert und erscheint vier Mal im Jahr aktuell sowohl gedruckt als auch digital als E-Paper. Hier geht es zur Website des Magazins und zu mindestens 10 E-Papers. Seit Frühjahr 2018 schreibe ich ehrenamtlich redaktionelle Beiträge.

Anke & Klaus Servene 2025

Winterausgabe 2025/26: Frischer Wind – oder: Wie Kinder die Köster-Stiftung erobern

Hamburg, den 23. August 2025. Einen Tag nach dem Köster-Sommerfest höre ich vollkommen unerwartet viele Kinderstimmen im parkähnlich gestalteten Innenbereich. Die Aufbauten zum Fest werden spontan genutzt, um ein hinreißendes Kindertheater-Stück aufzuführen. Weltpremiere für die Kindertagesstätte Lilliputs und sicher neu in der Köster-Stiftung. Mit Dank an Lisa Camacho, die alle Fragen beantworten konnte. | Klaus Servene

Bei schönem Wetter erlebt das recht zahlreich erschienene Publikum einen Vierteiler, der ohne Umwege direkt in die Herzen vordringt. Dekoration und Kostüme sind liebevoll und themenbezogen angefertigt worden. Um eine Oma Biene in ihrem Stock summt und brummt es. Eine kleine Schauspielerin stellt sich als Königin vor, es folgen einige Drohnen und Arbeiterinnen, dazu Musik, „guck mal da diese Biene!“ und „Bienen sorgen für die Früchte der Welt“. Als plötzlich die Königin stirbt, wird das Bienenleben mit kindlicher Inbrunst und Freude trotzdem fortgesetzt. Natürlich!

Zu Hilfe“, rufen die Kinder im zweiten Teil der Vorstellung im Chor, auf Spanisch, eines von ihnen sucht verzweifelt seine Mutter, und wendet sich nach und nach an verschiedene Mitmenschen, die, mit Tiermasken vor den Gesichtern, das Reich der Tiere symbolisieren. Sie alle helfen nun bei der Suche, die endlich erfolgreich endet: Die Mutter wird gefunden.

Es folgen ein „Gorillatanz“ und noch ein Tanzstück, beide mit viel ansprechend choreographierter Bewegung und passender Musik.

Die „Zugabe“ ist ebenfalls anrührend: Zum dezent hörbaren Song „We are family“ bittet die vor Empathie sprühende Leiterin der KiTa jedes einzelne Kind der zwanzig mitwirkenden auf die Freilicht-Bühne, dankt ihm unter dem Applaus aller Anwesenden für den Auftritt und überreicht Präsente. Dann fließt leider auch so manche Träne, als nämlich eine Betreuerin öffentlich verabschiedet wird.

Mit Kinderschminken und einem gemeinsamen Essen klingt das Sommerfest der KiTa aus.

Die multikulturelle KiTa Lilliputs in der Bramfelder Chaussee wird von Melanie und Alexander Haase geleitet. Sechs Betreuerinnen und Betreuer und drei Azubis kümmern sich um bis zu 28 Kinder. Beate Kammigan ist die Verbindung zur Köster-Stiftung zu verdanken. So kümmert sich die KiTa um ein Hochbeet. Mitbewohnerin Renate Listemann liest seit rund einem Jahr regelmäßig den Kindern vor.

Und vielleicht wird es in der Zukunft mehr Auftritte der „Lilliputs“ in der Köster-Stiftung geben. Das ist wünschenswert. Denn wie ist heute, am 23. August 2025, in allen Fahrstühlen zu lesen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ 

Hier geht es zu den Lilliputs Hamburg. 

Ausgabe Herbst 2025, Thema Lebensfreude, Doppelseite; eine Kurzgeschichte und ein Buchtipp, Zeit der Mutigen von Dimitré Dinev:     


 

Literaturtipp: Zeit der Mutigen

Dass die Freude am Leben in vielen Facetten auch in der Köster-Stiftung zum Ausdruck kommt, zeigen die zahlreichen Angebote, die von der Bewohner- und Nachbarschaft laufend und gerne angenommen werden. | Klaus Servene

Musik und Gesang, Sport und Bewegung, Spiel und Diskussion sind regelmäßig und oft angesagt, Kreativ-, Mal- und Line-Dance-Gruppen äußerst aktiv. Es gibt die Bunte Meile und den Martinsmarkt, Sommerfeste und Weihnachtsfeiern, und es gibt noch sehr vieles mehr. So zum Beispiel die gut genutzte Hausbibliothek, die vielen Buchtipps im Köster-Magazin, von welchen ich doch einige in den letzten acht Jahren verfasste. Daran und an den Lebens- und Lesezeichen der „Stunde der Weltliteratur“ mit Pastor Bill, heute fortgesetzt durch Erich Kriegs „Literarische Begegnungen“, möchte ich heute anknüpfen. Und zwar nicht mit „irgendeinem“, sondern einem recht persönlichen Tipp.

Vor rund 25 Jahren, ganz zu Beginn seiner Erfolgsgeschichte als Autor, lernte ich Dimitré Dinev aus Wien kennen. Durch einen literarischen Wettbewerb. Als 2003 sein erster Roman „Engelszungen“ erschien, gab es medial eine sehr postive Resonanz. DIE WELT, Süddeutsche, Spiegel, Die Zeit, NDR und viele, viele andere besprachen das Buch ausführlich und empfahlen es. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb: „Dimitré Dinev hat einen bis ins Detail beeindruckenden Roman schreiben können. Den ersten einer Karriere, die gerade beginnt.“ Womit Paul Jandl recht behalten sollte, denn es folgten weitere Werke auch für die Theaterbühne und fürs Kino. Und nun also „Zeit der Mutigen“, sein zweiter großer Roman, der gute zwölf Jahre erarbeitet wurde und von vielen erwartet. „Ein Jahrhundert im Buch, ein Jahrhundertbuch“, formuliert der Verlag euphorisch.

Für mich war es eine Ehre das umfangreiche Werk bereits vor der Veröffentlichung zu lesen.

Nicht der Wiener Zentralfriedhof mit dem Grab eines „Engels der Migranten“, wie in „Engelszungen“, steht hierin am Beginn der Erzählung. Dimitré Dinev, 1990 über die grüne Grenze aus Bulgarien nach Österreich geflohen, hat sich mit „Zeit der Mutigen“ einmal mehr und jetzt auch besonders ausführlich und eindringlich vom Etikett „Migrationsliteratur“ befreit.

Im neuen Roman ist das Wasser der Donau in der KuK-Hauptstadt der Startpunkt. Als das Dienstmädchen Eva am Vorabend des Ersten Weltkriegs ihrem Leben in der Donau ein Ende setzen möchte, wird sie stattdessen in die Arme des jungen Infanterieleutnants Alois Kozusnik gespült ... So beginnt eine epische Geschichte, die sich aus drei großen Erzählsträngen nach und nach zusammensetzt. Und sich über das ganze 20. Jahrhundert und drei Generationen fortspinnt.

„Zeit der Mutigen“ ist für mich vor allem selbst ein mutiges und wichtiges Werk; erschütternd und befreiend, aufbauend und beklemmend, tieftraurig und erheiternd. Die Erschaffung des Menschen durch den Menschen selbst ist das Thema. „Es gibt keinen mystischen Grund, aus dem das Böse entspringt. Es gibt nur den Menschen, dank dem es in die Welt tritt.“ Heißt es. Doch: Trost, Rettung und Befreiung vom Bösen, ja, Lebensfreude in schwierigster Zeit sind durchaus möglich. Neben Wissen braucht es dazu Mut und Freundschaft. Den Anderen eben.

Doch Vorsicht! „Wer einmal in Dinevs Welt geraten ist, verlässt sie nur ungern wieder.“ schrieb Carmen Eller 2005 in der Frankfurter Rundschau. Und dieser Satz stimmt noch immer. Und Matthias Gretzschel formulierte, bezogen auf den Erzählband „Ein Licht über dem Kopf“ im gleichen Jahr im Hamburger Abendblatt: „Man kann fast süchtig werden nach diesen unerhörten Alltagsgeschichten.“ Balsam für mutige Lese- und Lebensfreudige!

Zeit der Mutigen, Kein & Aber, 1152 Seiten, als Hardcover und E-Book erhältlich
ISBN: 978-3-0369-5079-2 – Engelszungen als btb-Taschenbuch erhältlich, 608 Seiten, 13 €

Lebensfreude – das versöhnliche Funkeln im Herzen

Eine Kurzgeschichte, nicht ohne Humor, wie ich hoffe. Natürlich mit frei erfundenen Figuren. Und mit Dank an den Pflegedienst, besonders an Schwester Karen, die bereits über 25 Jahre lang in der Köster-Stiftung arbeitet. Ihre Schilderungen aus einer Zeit davor wurden dankbar aufgenommen. | Klaus Servene

Svenja, eben über 50, verheiratet, drei Kinder, kramte in ihrer Dienstschublade. Da lag es ja, ihr altes Notizbuch. Unter einer nicht so alten FFP2-Maske. Sie nahm es an sich und startete beschwingt in den Doppelschichttag. Ja damals! In einer anderen, ebenfalls altehrwürdigen Stiftung in Hamburg. Zimmer 106 war noch mit vier Damen belegt. Es war rätselhaft, nicht hinnehmbar, doch das Zimmer war hinsichtlich der Belegung in den 1970iger Jahren stecken geblieben. Die Damen reagierten sehr unterschiedlich auf die tägliche Hygiene, wurden alle nach dem Aufwachen aber gleich höchst aktiv. Sie hatte täglich große Mühe sie zu waschen, anzukleiden.

„Du bist böse! Du bist böse!“, zischte Frau X ununterbrochen, während Svenja ihr die Haare kämmte. „Dass iss fürs Vaterland, dass iss die Mission fürs Vaterland ...“, ließ sich Frau Y wenig später und gleichzeitig vernehmen. Sie lag noch im Bett, die Decke hochgezogen bis zum Kinn, betete die Worte wie eine fromme Litanei. Kurz hintereinander verstärkten die beiden anderen Damen diesen für Svenja seit langem bekannten Chor. „Tee und zwei Graubrotschnitten!“, befahl Frau A, „eine mit Rotwurst und eine mit Tilsiter Käse! Quatsch nicht!“ Sie würde ihre Anweisungen den ganzen Tag über wiederholen, während sie jetzt gerade Anstalten machte, das Zimmer barfuß und in Schlafkleidung zu verlassen. Frau B's Stimme ertönte nun. Ein gleichsam musikalischer Kontrapunkt zum Vortrag der anderen. Es war ein Rätsel, was die Damen bewogen hatte, diese Sätze ständig zu wiederholen, und längst hatte sich Svenja abgewöhnt, das Rätsel lösen zu wollen. „Sagen, fragen, leise kreisen, Gottes Wort, Dank sagen, fragen, leise kreisen, Gottes Wort, Dank sagen ...“ formulierte Frau B, summte die Worte wie einen heiligen Psalm, ohne sich je selbst zu unterbrechen. Und zweifellos auch, ohne sich selbst hinterfragen zu können. Die vier Damen würden ihren Chor bis zum Einschlafen heute Abend nahezu ununterbrochen fortsetzen. Es war ihre Art ihren unbedingten Lebenswillen auszudrücken. Wenn sie auch gepflegt werden mussten, so waren sie doch starke Persönlichkeiten mit langen, sehr langen Lebenserfahrungen. Sie hatten verdient mit Respekt behandelt zu werden.

Svenja vollzog die täglichen Rituale wie immer gründlich, kämmte und wusch und hielt an welken Händen die Damen manchmal zurück. Zuweilen dachte sie, dass sie sich doch ungefähr so verhielten wie zurzeit große Teile der Gesellschaft. Ununterbrochen wurde geredet, zu oft vollkommen aneinander vorbei. Das Wort „Belastungsmarathon“, das so in Mode war, ließ sie schmunzeln. Diese Menschen verlangten gute Betreuung, und dafür waren Menschen wie sie, wie Svenja, nun mal zuständig.

Heute Abend, nach einem gemütlichen Essen im Familienkreis, worauf sie sich schon freute, würde Svenja ihr Notizbuch zu Hause noch mal durchlesen. Interessant, die alten Zeiten! Immer mal wieder gut und heilsam, in Erinnerungen zu schwelgen. Wieviel sich doch geändert hat!

Aber ihr Vorhaben scheiterte gründlich weil kurz vor Dienstschluss Frau U im Büro auftauchte. „In meinem Zimmer ist eine Maus!“, sagte sie tonlos und entsetzt. „Kann ich bei Ihnen schlafen?“ Frau U stand im Ruf überängstlich zu sein, aber dennoch verpasste Svenja den Familienabend. Sie hatte jetzt unerwartete „Beschwichtigungs-Überstunden“ auf dem Zettel. Belastungsmarathon eben. Den absolvierte sie öfter. Ziemlich müde vom Arbeitstag aber mit einem versöhnlichen Funkeln im Herzen. Sie arbeitet schließlich für alle die am Leben hängen. Ihr fiel ein Satz von Udo Lindenberg ein: „Die Tage sind gleich lang aber verschieden breit!“ Mit einem Lachen legte sie ihr Notizbuch wieder in die Schublade und wandte sich Frau U zu, die sich darüber sehr freute.

 
Ausgabe Sommer 2024; Das Thema Zivilcourage:

Der Mut der Einzelnen, der die Gemeinschaft stärkt

Menschen sind bekanntlich zu gewaltigen Untaten fähig. Aber eben andererseits auch zu uneigennützigem Handeln im Sinn von Menschlichkeit. „Das Wunder der Schöpfung besteht darin, dass ein moralisches Wesen geschaffen wird.“ So der französische Philosoph Emmanuel Lévinas. Hier kommt, gleichfalls aus dem Französischen, der Begriff „Zivilcourage“ zum Zug. | Klaus Servene

Courage civile“ bzw. „Courage civique“ werden auch oft mit „Bürgermut“ oder „Sozialem Mut“ übersetzt. Bezeichnet wird das Phänomen, dass Einzelne intervenieren, „dazwischengehen“, wenn andere, fremde Menschen, bedroht oder angegriffen werden. Etwaige Nachteile für die eigene Person werden in Kauf genommen. Als 2017 in einem Hamburger Supermarkt in unserer Nachbarschaft ein Islamist mehrere Menschen niederstach, stoppten ihn muslimische Migranten, Barmbeker Mitbürger. Dadurch verhinderten sie weitere Amokopfer und wurden zu Recht im Polizeipräsidium für ihre „Zivilcourage“ geehrt. Die Presse sprach von den „Helden von Barmbek“.

Der Begriff „Zivilcourage“ umfasst also sicherlich ein entschiedenes Eintreten für die Unversehrtheit einzelner Menschen in Bedrohungssituationen. „Zivilcourage“ umfasst darüber hinaus aber auch ein widerständiges Verhalten in diktatorischen Staaten. Für ihren Einsatz für Menschen- und Frauenrechte, beispielsweise, hat die iranische Aktivistin Narges Mohammadi 2023 den Friedensnobelpreis erhalten. Die Verleihung erfolgte in Abwesenheit der Preisträgerin, denn Mohammadi befindet sich in Iran in Haft.

Ein drittes Beispiel: „Sich einmischen, wenn andere schweigen.“ Das ist das Motto des „Bertini-Preises für junge Menschen mit Zivilcourage“. Im Januar diesen Jahres wurde er an 131 Jugendliche in Hamburg für verschiedene Projekte feierlich verliehen. Zum 26. Mal fand die Würdigung des Engagements für demokratischen Zusammenhalt statt. Ganz im Sinn von Ralph Giordano und seinem Roman „Die Bertinis“.

Wir sehen also: „Zivilcourage“ hat viele Gesichter, mehrere Bedeutungen und zahlreiche Aspekte. Und: „Zivilcourage“ ist nicht nur dann vonnöten, wenn in einer autokratischen Gesellschaft Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden. Sie ist auf jeden Fall ebenso unerlässlich in einer demokratischen, zivilen Gesellschaft wie der unsrigen. Wir alle bilden schließlich „die Gesellschaft“ und sind auf das Verantwortungsbewusstsein und die Unterstützung möglichst vieler Bürger*innen angewiesen. Sei es im alltäglichen Miteinander oder in öffentlichen Diskursen, in Unternehmen oder in staatlichen Einrichtungen. An vielen Universitäten und Fachhochschulen wird zu diesem Phänomen und Begriff wissenschaftlich geforscht. Zahllose Initiativen bieten Coachings und Erfahrungsgruppen an. Und nicht zuletzt gibt es zahlreiche Würdigungen und Preise für „Zivilcourage“.

Diese Aktivitäten und Würdigungen sind zweifellos wichtig. Menschen, die „sozialen Mut“ zeigen, stellen die Unversehrtheit und Würde anderer über durchaus mögliche eigene Verletzungen. Sie handeln im besten Sinne selbstlos und erinnern durch ihr Handeln die Gemeinschaft an Verantwortung und Moral. Mich fasziniert der Gedanke, dass es aber zweifellos viele zivilcouragierte Handlungen gibt, die von keiner Schlagzeile erwähnt, mit keinem Preis bedacht und von nur wenigen direkt Beteiligten wahrgenommen werden. Private Streitschlichtereien, Anti-Hass-Worte, humanistische Akte jedweder Art, die auf der ganzen Welt im Verborgenen geschehen. „Aus dem Impuls einer Kraft, die von Muttermilch zu Muttermilch weiter gesaugt wird, die jedem Einzelnen zur Verfügung steht. Wo auch immer ihr Ursprung sein mag, diese Kraft nenne ich heilig.“ (Dimitré Dinev: Barmherzigkeit – Unruhe bewahren, Residenz Verlag,)

Der „gute Mensch“ ist in Verruf gebracht worden. Tagtäglich aber und weltweit beweist er, dass er dennoch lebt! Ich jedenfalls glaube an die „absolute Kraft des Menschlichen“ (Dinev). Diese „absolute“ Kraft ist „losgelöst“, unabhängig von Ethnie, Glauben, sozialer Stellung, Nation. Sie ist universell. Für mich ist das zwar auch ein Wunder, aber weit mehr noch eine Essenz. Gewonnen aus ausgiebiger Reise- und intensiver Lebenserfahrung.

 

 
Ausgabe Winter 2022 / 2023; Blick auf Europa:
 
 

Europa!

Wussten Sie, dass es „diplomierte Resilienztrainer“ gibt? Sicherlich leben wir in einer Zeit, in der man katastrophalen Nachrichten kaum entkommen kann und solche Berufe sind wahrscheinlich sehr gefragt. Von Marc Aurel ist das Stoiker-Zitat überliefert: „Es steht dir frei, zu jeder Stunde dich auf dich selbst zurückzuziehen. Gönne dir das recht oft, dieses Zurücktreten ins Innere und verjünge so dich selbst.“ Und Martin Luther soll gesagt haben: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ ׀ Klaus Servene

Rund zehn Jahre nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union musste deren Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen am 14. September 2022 in Straßburg vor dem Europa-Parlament feststellen: „Nie zuvor wurde in diesem Haus über die Lage unserer Union debattiert, während auf europäischem Boden Krieg herrscht.“ (Der komplette Redetext ist leicht über die offizielle Website der EU zu finden.)

Dass die moderne europäische Idee nach 1945 sich aus der Botschaft der Kriegstoten aus zwei Weltkriegen und aus dem Geist der unmittelbaren Nachkriegszeiten entwickelt hat, war noch zu Zeiten der letzten Europawahl 2019 lediglich ein Randthema. Viele, zu viele winkten gleich ab, wenn „Europa als Friedensprojekt“ zur Sprache gebracht wurde. Ein „alter Hut“!

Zwar war die Nachkriegszeit wesentlich geprägt von dem Versuch, der allgemeinen Sprachlosigkeit angesichts der Barbarei auf Europas Schlachtfeldern eine zukunftsträchtige politische Vision entgegenzusetzen. Eine zivilgesellschaftliche und politische Alternative namens Europa war gewollt, irgendwie und irgendwo zwischen Charles de Gaulles „Europa der Vaterländer“ und Churchills „Vereinigten Staaten von Europa.“ Nach dem Fall des eisernen Vorhangs war Deutschland schließlich „von Freunden umzingelt“. Begrüßte mit nahezu frenetischem Beifall Vladimir Putins Erklärung, der kalte Krieg sei vorbei.

Ursula von der Leyen nun spricht von einem „schicksalhaften Februarmorgen“ und der Bestürzung, die der Angriff auf die Ukraine ausgelöst habe. Doch ein ganzer Kontinent habe sich solidarisch gezeigt. Bei der Finanzkrise vor fünfzehn Jahren haben wir Jahre gebraucht, um dauerhafte Lösungen zu finden. Während der weltweiten Pandemie eine Dekade später hat es nur Wochen gedauert. Doch in diesem Jahr haben wir, kaum hatten die russischen Truppen die ukrainische Grenze überschritten, geeint, entschlossen und schnell reagiert. Und darauf sollten wir stolz sein. Wir haben die innere Stärke Europas wieder zum Vorschein gebracht. Und diese Stärke werden wir brauchen. Die bevorstehenden Monate werden nicht leicht. Weder für Familien, die nur schwer über die Runden kommen, noch für Unternehmen, die schwierige Zukunftsentscheidungen treffen müssen. Eines aber muss ganz klar sein: Es steht viel auf dem Spiel. Nicht nur für die Ukraine – sondern für ganz Europa und für die ganze Welt. Wir werden auf die Probe gestellt. Und zwar von denen, die jede Art von Spaltung zwischen uns ausnutzen wollen. Dies ist nicht nur ein Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dies ist ein Krieg gegen unsere Energieversorgung, ein Krieg gegen unsere Wirtschaft, ein Krieg gegen unsere Werte und ein Krieg gegen unsere Zukunft. Hier kämpft Autokratie gegen Demokratie.“

An der Wand einer verwüsteten Wohnung in der Nähe von Kiew entdeckte man nach dem Abzug der russischen Truppen ein Graffito. „Wer hat euch erlaubt, so gut zu leben?“

Bei aller Kritik an der Europäischen Union, auch an den Maßnahmen unserer amtierenden Regierung, so hoffe ich doch, dass Ursula von der Leyen recht behält, wenn sie sagt: „Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir Putin mit Mut und Solidarität zum Scheitern bringen werden und Europa am Ende die Oberhand gewinnt.“

Auf Europa wartet eine Menge Arbeit. 27 europäische Staaten mit etwa 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sind ein Schwergewicht in dieser einen Welt. Das europäische Projekt hat Zukunft, wenn wir Europäer uns wieder auf die Ursprünge des europäischen Gedankens konzentrieren. Unermüdlichkeit ist gefragt, nicht zuletzt, weil es um individuelle Freiheit geht. Selbstverständlich auch darum, dass es jeder Bürgerin, jedem Bürger frei steht, zu jeder Stunde sich auf sich selbst zurückziehen zu dürfen.

Meine Meinung – und Ihre?

Ausgabe Sommer 2022; Buchtipps Natascha Wodin Sie kam aus Mariupol, Dimitré Dinev Engelszungen:

 
 

Ausgabe Winter 2019 / 2020; Buchtipp Joachim Gauck  
Toleranz: einfach schwer:

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck setzt schon seit vielen Jahren wichtige Akzente im öffentlichen Diskurs und sucht darüber hinaus schier unermüdlich das Gespräch mit den Bürgern. Jetzt meldet er sich mit einem „Plädoyer für kämpferische Toleranz“ zu Wort. | Klaus Servene

„Wir brauchen in unseren Breiten eine deutlichere und bewusstere Debatte über Toleranz, diese schwer errungene, oft verweigerte, von verschiedenen Seiten diskreditierte Haltung freier Menschen“, begründet Joachim Gauck sein in Zusammenarbeit mit Helga Hirsch geschriebenes neues Buch. Was er als „Gesprächsbeitrag“ verstanden wissen will, erweist sich während der Lektüre als ein sehr umfassendes Werk, das nahezu alle „heißen Themen“ aufgreift, über die in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren und aktuell diskutiert wurde und wird.

Eine fundierte geschichtliche Annäherung an das Thema Toleranz wird mit aktuellen und früheren eigenen Erfahrungen mit Toleranz und Intoleranz verbunden. Gauck schildert, wie als Folge verheerender Religionskriege in Europa ein Nebeneinander der Religionen entstand. Wie schließlich Minderheitenschutz und Schutz des Individuums gefordert und durchgesetzt wurden. Inzwischen ist es zur Staatspflicht geworden, die individuelle Würde zu achten. Um die Unterscheidung von bloßer Erlaubnistoleranz, die durchaus Verachtung in sich tragen kann, und Toleranz als Anerkennung wurde in der Geschichte oft gerungen. Es zeigte sich, dass es viele Arten der Toleranz gibt – Duldung, Koexistenz, Respekt, Liebe – und dass es auch stets um die Grenzen der Toleranz gehen muss. Gauck, der als Pastor 1989 die Proteste in der DDR mit initiiert hatte und später 10 Jahre lang Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen war, beschreibt die Herausforderungen für den in der DDR-Gesellschaft Geprägten: Der hatte sich mehr Toleranz gewünscht, sah sich nach der Wiedervereinigung jedoch überfordert. Überfordert durch die eingeforderte Toleranz gegenüber bisher Fremdem. Gegenüber anderen Kulturen, gegenüber offen gelebten Sexualitäten auch jenseits der vertrauten Norm. Auch er selbst habe „gefremdelt“. „Das Leben in einem Einwanderungsland konnte ich erst nach der Wiedervereinigung erlernen, als ich bereits 50 Jahre alt war“, schreibt Gauck.

Gauck verteidigt das Fremdeln nicht, er wirbt um Verständnis. Gerade für die Menschen, denen er sich selbst nicht zugehörig fühlt, die er aber aus dem gesellschaftlichen Konsens nicht ausgeschlossen sehen will: Menschen, denen Sicherheit und gesellschaftliche Konformität wichtiger sind als Freiheit und Pluralität. Gauck zitiert Studien, wonach solche Einstellungen nicht ohne weiteres veränderbar seien – vor allem nicht kurzfristig und vor allem nicht in Zeiten, die als bedrohlich wahrgenommen werden. Zu lange sei er der Ansicht gewesen, Aufklärung und Bildung per se würden im Laufe der Zeit Intoleranz „erledigen“. Ein Gebot der Stunde, folgert der Autor, sei es, in scharfer Abgrenzung zum Rechtsextremismus, auch „autoritäre Dispositionen“ und „rechte“ Auffassungen zu tolerieren, in den demokratischen Diskurs einzubeziehen. Freilich in der Hoffnung, sie im Sinn einer aufgeklärten Toleranz zu verändern.

Keine Toleranz gegenüber der Intoleranz

Aus der Fülle der zeitgenössischen Herausforderungen ergeben sich für Joachim Gauck oft recht kurz gehaltene Schlussfolgerungen, anders wäre die Themenbreite kaum auf 200 Seiten zu bewältigen: So erfahren wir, was Gauck vom Multikulturalismus hält und wo er sich dagegen verwahren will, und aber auch fast nebenbei, wie genau das Bild der „alten weißen Männer gegen den Rest der Welt“ in die Diskussionen gelangte. Wir lesen über „politische Korrektheit“, die auch dogmatische, problematische Seiten entwickelt habe. Genauso wie eine Identitätspolitik – in Genderfragen ebenso wie in ethnischen oder kulturellen. Ihn besorge, dass vielfach der Blick auf das Individuum verstellt würde, dass die Gesellschaft auseinanderdividiert werden könnte. Für den Leser fast im Vorbeigehen beantwortet der Autor verschiedenste Zweifelsfragen. So sei die Frage des Kopftuchs differenziert zu betrachten, aber bis 14-Jährige sollten es doch eher nicht tragen ...

Liberaler Nationalstaat versus Extremismus und Fundamentalismus, könnte man den roten Faden zusammenfassen. „Jeder bewusste Demokrat (…) muss aber sein überzeugtes Ja zur Toleranz ergänzen durch ein entschlossenes Ja zur Intoleranz, nämlich dann, wenn Freiheit und Toleranz bedroht sind und ausgelöscht werden sollen. Tolerieren und verteidigen gehören zusammen.“

Gauck spricht am Anfang des Buches von einem „kollektiven Nachholbedarf in Sachen Toleranz“ und folgert am Ende: „Toleranz ist zwar weder selbstverständlich noch einfach; sie bleibt eine Anstrengung und so manches Mal eine Zumutung. Aber wie so oft im Leben: Wer eine Herausforderung annimmt und sie erfolgreich bewältigt, wird mit Glücksgefühlen belohnt. Wir sollten Toleranz also nicht nur als Zumutung oder mögliche Überforderung begreifen, sondern auch als Ausdruck menschlicher Reife, als eine zivilisatorische Leistung, die den Menschen wachsen lässt und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Toleranz ist, um ein betagtes Wort zu benutzen: eine beglückende Tugend.“

Man musste und muss nicht immer alle seine Auffassungen teilen. Doch sie zu kennen, lohnt bereits die Lektüre, weil die eigene Ansicht herausgefordert und vielleicht auch korrigiert werden kann. Und für alle, die sich allgemein mehr Gedanken darüber machen wollen, welche Toleranz unsere Gesellschaft braucht, ist das Buch sowieso empfehlenswert.

Joachim Gauck, Toleranz: einfach schwer, Herder, 2019, gebunden, 220 Seiten, 22 Euro

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