Dienstag

Und über uns - die Brücke der Erwartung

(c) Leseprobe aus: Klaus Servene, Werkauswahl Band 2: Und über uns – die Brücke der Erwartung, Erzählungen, Mannheim 2015:


In einer Sylvesternacht tauchte sie auf. In den letzten Jahren hatte es manchmal so ausgesehen, als würde sie wiederkommen, mal beschleunigte sich ihr Herzschlag, mal änderten sich auch Rhythmus und Intensität ihrer Atmung, doch es war immer nur falscher Alarm, sie fiel wieder ins Koma. Wo immer dieser Ort ist, das Koma, es ist ein unzugänglicher, ferner Ort, über den wir im Grunde nichts wissen. Nichts, auch wenn wir alles zusammentragen, was unsere Patienten berichten, wenn alles gut geht, sie sich erholen und in der Lage und außerdem willens sind, zu berichten. Vielleicht war es das Feuerwerk, der Lärm und das Leuchten, vielleicht auch ein unbekannter Wille, ich weiß es nicht, in dieser Nacht jedenfalls kam die Frau zu sich, die Frau, die ja fast noch ein Mädchen war. Niemand wusste, woher sie kam, und bereits nach wenigen Stunden flüsterte sie Silben, Wörter, zuckte mit den Wimpern, kniff ihre Augen zu und öffnete sie wieder; und ich rannte in das Stationszimmer, griff mir das Diktiergerät, wollte unbedingt aufzeichnen. Das Bild ihrer Augen hatte sich mir eingebrannt. Ich hatte nicht mitbekommen, wie genau es geschah; dass sie ihre Augen plötzlich öffnen konnte oder wollte, war jedenfalls die Überraschung der Nacht. Die meisten unserer Patienten liegen mit offenen Augen, doch Selma war anders. Sie hatte ihre Augen immer fest verschlossen, zwei mit Vaseline verschmierte Falten, aber jetzt boten sie plötzlich ein anderes Bild: Zwei wässrige, fragende Spiegel aus graublauer Farbe. Spiegel, die nicht nach einem Gegenüber zu fragen schienen, die nicht Besorgnis ausdrückten, von mir, jemand anderem oder von der Welt Anerkennung oder Verständnis zu bekommen. Es schienen mir Spiegel zu sein, die ein inneres Geheimnis nur zögerlich nach außen durchscheinen lassen wollten. Ich schaltete das Diktiergerät ein und hielt es ihr dicht vor die Lippen.

»In jede Ferne und in jede Stille habe ich hineingelauscht«, sagte Selma. »Die Räume brachen entzwei und die Zeit entpuppte sich als eine lautlose Kette dauernd wiederkehrender Ereignisse. Ich hatte Angst, und ich hatte Freude, ich schmeckte Süße und Bitternis, ich folterte mein inneres Leben mit Sehnsucht, ich verstand das Ziel der Reise nicht. Die Stille brach entzwei, Boote fielen von den Spitzen der Berge, trieben wie Knospen auf Kernschmelzenbrei, die Kinder, sie riefen, die Mütter, sie rannten, die Häuser, sie brannten und schwammen vorbei. Die Ferne zu nah, viel zu nah war die Ferne, man verstand nicht und sah, man vernahm ihre Schreie, Godzilla hörte man brüllen, Godzilla hier und Godzilla da, überall Godzilla, und plötzlich dann: Das Lärmen zerbröselte und wich der großen Stille – nein, nicht die Stille ist leer, nein, nicht die Stille ist fern. Die Stille ist nah, sehr nah ist die Stille, voller Sanftmut ist die Stille, flauschig ist sie, wie etwas sehr Vertrautes, wie ein geliebter Mensch. Ja, die Stille ist ein geliebtes Wesen, so nah und so fern wie die Liebe selbst. Man kann die Stille und die Liebe spüren, obwohl beide unantastbar sind.« Ich streichelte ihre Hände und sie sagte: »Wenn in den Gewitterställen die letzten Reiter ihre scharrenden Pferde zur Flucht satteln, dann ist auch die Stille nicht weit.«

***

Als ich am nächsten Tag zur Schicht kam, hatte sich die gute Nachricht natürlich in der Station und noch weit darüber hinaus herumgesprochen. Selma blickte auf die Fotos über sich an der Decke, vor fast drei Jahren hatte ich sie vergrößern lassen und dort angebracht, wo ihr erster Blick wahrscheinlich hingehen würde – falls sich das Unwahrscheinliche ereignen und sie die Augen öffnen sollte. Ihr Mann war auf den Fotos zu sehen, sie hatte jung geheiratet, zwei Kinder, und natürlich sie selbst: Eine schlanke, sportliche, sehr junge Mutter inmitten einer lachenden Familie, an einem hellen Tag, an einem See. Wir sind Spezialisten, alles hatten wir getan, auf der Höhe des Wissens unserer Zeit, um Selma bestens zu versorgen, sie aus der Tiefe zu retten. Wäre sie beim Surfen verunglückt und auf den Grund des Sees gesunken – ihre Rettung wäre ein Kinderspiel gewesen. Doch Selma war tiefer abgetaucht als in irgendeinem See, nicht nach einem einfachen Unfall, sondern nach einer komplizierten Operation, während der sie mehrmals herztot war und mit Suprareninspritzen in ihr Herz wiederbelebt werden musste. Wir wuschen Selma täglich von Kopf bis Fuß, schnitten ihr regelmäßig Haare und Nägel, versorgten ihre Augen mit Tropfen und Vaseline. Wir streichelten und besprachen sie, spielten andauernd ihre Lieblingsmusik und hielten die Familie auf dem Laufenden, das bald ein auf der Stelle Laufendes war, ein Stillstehen, umgeben von der Routine unserer Hoffnung. Ihr Körper – der eigene Sarg!

Ihr Mann hatte zu ihr gehalten, war ständig an ihrer Seite, seit drei Monaten nun aber neu liiert. Alle verstanden das, die Kinder nicht, die Kinder waren nach etwa zwei Jahren nicht mehr zu Besuch gekommen, die Kinder hatten es nicht mehr ausgehalten, sie hatten oft geweint, sie waren noch sehr jung, die Kleinen.

Es würde Zeit kosten, der Patientin zu sagen, dass der Mann neu liiert war, wir würden das dem Mann nicht selbst überlassen, unsere Psychologin wartete schon auf Selma. Auch unsere Ärzte warteten, bis sie bereit sein würde, bereit für ihre Ansprache mit ihren Ärzte-Wörtern aus griechischen und lateinischen Silben, aus toten Sprachen, die nurmehr von Ärzten gesprochen werden, die das Leben bis zuletzt verteidigen, durch das ganze Koma hindurch, bis zur Auferstehung und noch weiter. Und Zahlen warteten auf sie, immer kommen nach dem Überleben auch die Zahlen ins Spiel.

Nach drei Tagen aß Selma bereits mit Appetit, die Logopädin stellte sich bei ihr vor, der Physiotherapeut hatte Übungen gemacht mit Gummibändern und Reinblasrohr, der Anästhesist schaute nur aus Neugier herein: Ein Wunder – die Frau Meerbaum! Ihre Kinder waren unerwartet und plötzlich für den Abend angekündigt worden, ihr Mann hatte es verkündet, und während er es verkündete, hatte er laut gelacht. Ein herzliches Lachen von tief drinnen, ihr Mann war direkt nach der frohen Botschaft gekommen, verwundert und vor Freude bestürzt, und gleich hatte er zu lachen begonnen, und nun saß er mit wenigen Unterbrechungen an ihrem Bett, hielt lächelnd und lachend ihre Hand, während seine Neue im Gästezimmer wartete. Ich hatte ihm die Sätze seiner Frau vorgespielt und ihm das Gerät zum Aufzeichnen überlassen. Schließlich konnte man nicht wissen, was Selma in den kurzen Phasen ihres vernehmbaren Sprechens noch äußern würde. Wir Pflegerinnen flogen über die Flure, aus Erleichterung über das Erwachen und aus Freude wegen des bevorstehenden Wochenendes.

Am Montag trat ich meinen Dienst an und fand das Haus in Trauer. Selma war leider wieder ins Koma versunken, ich fand neben meinem Diktiergerät einen Brief ihres Mannes, worin er mir auch persönlich dankte und seine Verzweiflung in Worte zu fassen suchte. Als ich mich dazu in der Lage fühlte, spielte ich das Band ab. Wie bei der ersten Aufzeichnung war Selmas Stimme nur schwer verständlich. Sie sprach schleppend und flüsternd, in zerhackten Sätzen, sie verschluckte viele Silben, und wie beim ersten Mal dauerte es eine längere Zeit, bis ich verstand, was sie gesagt hatte, und an den mir richtig erscheinenden Stellen Kommata und Punkte setzte:

»Hier gibt es keine Städte, keine Menschen, behalte deine Greifvögel und deine Wölfe und deine Füchse, nur hinter dir lassen kannst du deine alten Wörter und Zahlen, deinen Godzilla. Ich sage nicht, rechne so oder so, ich sage nur, rechne nicht damit, dass deine Zahlen von Bedeutung sind hier. Deinen Weg sollst du nicht berechnen, es ist dein Weg, den du gehst, ganz allein. Hierher kommst du nur selbst, ohne Berechnung, ohne deine alten Hintertüren. Die anderen reden und reden und schauen dich genau an. Sie denken, du kommst und atmest und lebst im Mittendrin. Im Mittendrin ihrer Kanülen und Geräte. Im Mittendrin ihrer Zahlen, Wörter und Berechnungen, im Mittendrin ihrer erregten Wortfechtereien; immer mit der Angst vor Godzilla. Doch du bist kein Spiegelfechter, du willst dabei bleiben, doch dabei bleibst du im höchsten Dazwischen. Darüber ein Ohr. Ein Ohr ist das Höchste, ein unvorstellbar großes Ohr, mit welchem das Wort des Ursprungs erlauscht wird. Des Höchsten eigenes Wort, denn Hören ist Handeln.

Ich spreche jetzt aus dem hohen Dazwischen zu dir, ich bin ganz Ohr und handle, weil du mein Mann und mein Gewissen bist, meine Schulter im Mittendrin. Ich weiß, dass du gehen wirst, gehen und tanzen und singen, und meine Worte vergessen, und deine Lieder und deine Angstfackel zu den anderen hintragen wirst. Ich bin darüber nicht traurig, auch nicht froh, aber ich werde dein Begleiter sein und dich beschützen: Vor ihren Ohrwurmen und Falltüren, vor ihren Lauschangriffen und Sockenpuppen, vor ihren Wolfshunden, Wortblasen und Hinterhöfen.

Ich habe einen anderen Namen als Godzilla. Ich habe einen Namen, und ich werde in deiner Stadt, in deiner Straße, in deinem Haus, in deinem inneren Leben wohnen, in deinem Mittendrin. Und wenn in den Gewitterställen die letzten Reiter ihre scharrenden Pferde zur Flucht satteln, dann ist auch die Stille nicht weit. Dann werden wir erhört sein mit Haaren, Haut und unserer Sehnsucht, angekommen und vielleicht geborgen. Dann werden wir eins sein in meinem Namen.«